Andreas Dresen

Halt auf freier Strecke

Durst-Löscher: Simone (Steffi Kühnert) gibt ihrem Mann Frank (Milan Peschel) etwas zu trinken. Foto: Pandora Film
(Kinostart: 17.11.) Eine Kollektiv-Improvisation über die letzten Dinge: Regisseur Dresen beobachtet eine Familie, deren Vater im Sterben liegt. Diese Todes-Studie ist erschütternd wahrhaftig – und unerträglich realistisch.

Kein Film hat ein größeres Zielpublikum: Der Tod ist jedem Menschen gewiss. Hier kommt die Schreckensnachricht gleich zum Auftakt. Dr. Uwe Träger verkündet sie Frank Lange (Milan Peschel) und seiner Frau Simone (Steffi Kühnert) im Besprechungszimmer: Frank hat einen unheilbaren Hirntumor und wird bald sterben.

 

Info

Halt auf freier Strecke

 

Regie: Andreas Dresen, 110 min., Deutschland 2011;

mit: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Dr. Uwe Träger

 

Website zum Film

Die Szene ist so nah wie möglich an der Realität: Träger arbeitet tatsächlich als Chefarzt für Neurochirurgie am Ernst-von-Bergmann-Klinikum in Potsdam. Der Raum ist sein wirklicher Arbeitsplatz, in dem er Patienten ihre Diagnose erklärt. Wie schwer es Träger fällt, dafür die richtigen Worte zu finden, zeichnet die Kamera minutenlang unbarmherzig auf.

 

Zwischen Spiel- + Dokumentarfilm

 

Selbst die Unterbrechung durch einen Telefonanruf ist nicht inszeniert: Träger muss für den OP-Koordinator ständig erreichbar sein. Nur die versteinerte Miene von Steffi Kühnert, während ihr eine Träne die Wange hinunterrollt: Das ist Schauspielkunst.

 

Träger ist nicht der einzige medizinische Fachmann im Film. Auch die Palliativ-Ärztin Petra Anwar, die sich um Frank kümmert, geht diesem Beruf ebenso im wahren Leben nach. Wie in früheren Werken verwischt Regisseur Andreas Dresen wieder die Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm: Das Einfamilien-Haus, in dem die Langes vor kurzem eingezogen sind, wurde vom Filmteam gekauft, damit die Dreharbeiten ungestört ablaufen konnten.

 

Auftakt-Szene des Films: Dr. Uwe Träger erklärt die Diagnose


 

Zum Gemüse werden

 

Mit seinem Verismus behandelt Dresen Zonen der Wirklichkeit, die zwar gewöhnlich, aber auf der Leinwand selten zu sehen sind. Meist geht es um den Alltag kleiner Leute: der «Polizistin» im Jahr 2000, Seitensprünge unter befreundeten Ehepaaren in «Halbe Treppe» von 2002 oder eine allein erziehende Mutter und ihre Freundin in «Sommer vorm Balkon» 2005. In «Wolke 9» verband zwei Rentner 2008 eine leidenschaftliche Affäre – inklusive Sex-Szenen.

 

Nun also der Tod. Genauer: das Dahinsiechen von Frank, und wie es seine Familie miterlebt. Das verläuft so nervenaufreibend erbärmlich, wie Krepieren nun einmal ist – die haltlosen Weinkrämpfe des Vaters. Seine Ausfall-Erscheinungen und Kollapse, die immer öfter auftreten. Sein allmähliches Degenerieren zu einem stammelnden, sabbernden Bündel, das nur noch durch Pflege rund um die Uhr, Bestrahlungen und Schmerz linderndes Morphium zusammengehalten wird. Das Französische kennt dafür die treffende Metapher: «zum Gemüse werden».

 

Zuschauer als Familien-Angehöriger

 

Der Zuschauer ist quasi als Familien-Mitglied dabei. Erlebt mit, wie Frank jede Autorität und Selbstbeherrschung verliert. Wie er mit seinem Schicksal hadert und mit Wutanfällen seine Angehörigen terrorisiert. Wie die 14-jährige Lilli und der achtjährige Mika sprach- und fassungslos die Zersetzung ihres Papas mit ansehen müssen. Und wie sich Simone aufopferungsvoll um ihren Mann und die Kinder kümmert – bis ihre Nerven blank liegen und sie Frank einen baldigen Tod wünscht.

 

Hintergrund

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

Der Film konzentriert sich ausschließlich auf diese Verfalls-Geschichte. Apparate-Medizin und Begräbnis-Rituale nimmt er als gegeben hin; ihr Sinn oder Unsinn wird nicht thematisiert. Das hat das Produktions-Team gemeinsam entschieden: Dresen erarbeitet seine Drehpläne stets mit den Schauspielern und lässt sie weitgehend improvisieren. Dieser Inszenierungs-Stil beglaubigt selbst die erschütterndsten Einstellungen. Niemand muss sich das ansehen, wenn er sich diesem allzu menschlichen Elend nicht aussetzen will. Man muss nur sterben.